Das Manifest des Erinnerns

Hallo Fremde:r,


wenn du das hier liest, bist du wohl auf eines unserer Plakate gestoßen. Es ist schön, dass du dir die Zeit genommen hast, denn wir haben etwas Wichtiges zu sagen: Heute ist der 27. Januar, der auch als Holocaust Gedenktag bekannt ist. Heute werden viele Politiker:innen Reden halten, Kränze niederlegen und Schweigeminuten abhalten. Heute werden viele „Nie wieder“ erklingen. Aber wir, junge Jüdinnen:Juden und Sinti und Roma in Deutschland, fragen uns: Geht es heute wirklich um eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust und seinen Folgen? Oder geht es vielmehr darum, sich durch einen performativen Akt zu vergewissern, dass die deutsche Gesellschaft heute endlich „entnazifiziert“ sei und nichts mit ihrer Vergangenheit zu tun hätte?

Wir wollen festhalten:

  1. Es begann nicht in Auschwitz: Der Holocaust begann im Supermarkt, im Hörsaal und im Sportverein. Er begann mit Nachbar:innen und vermeintlichen Freund:innen, die zu dem Unrecht schwiegen. Er begann damit, dass die Dominanzgesellschaft sich aktiv an der systematischen Ausgrenzung und Entrechtung Anderer beteiligte und sich an dieser bereicherte.
  2. Der Hass gegen uns ist nach 1945 nicht verschwunden: Auch nach dem industriellen Massenmord lebte die Ideologie in den Köpfen der Menschen fort und die Kontinuitäten rechter Gewalt in Deutschland sind bis heute präsent. Die Anschläge von Halle und Hanau sind nur zwei Beispiele von vielen. Die meisten davon bleiben bis heute unaufgeklärt.
  3. Erinnern heißt Verändern: Es reicht nicht, dass Politiker:innen Reden halten! Es reicht nicht, dass Kränze abgelegt und „Nie wieder“ gesprochen werden! Erinnern bedeutet, dass die nationalsozialistische Vergangenheit dieses Landes endlich aufgearbeitet werden muss. Es bedeutet, dass Institutionen und öffentliche Plätze, die die Namen überzeugter Antisemit:innen und Rassist:innen tragen, umbenannt werden müssen. Es bedeutet, dass Unternehmen, die sich an der Vernichtung und Ausbeutung bereichert haben, Verantwortung übernehmen müssen. Es bedeutet, dass den in Deutschland lebenden Jüdinnen:Juden und Sinti und Roma zugehört und geglaubt werden soll. Und es bedeutet, dass die rechten, antisemitischen und antiziganistischen
    Strukturen in diesem Land endlich gesehen und konsequent gesamtgesellschaftlich bekämpft werden müssen.
    Wenn du also bis heute glaubst, deine Familie sei im Widerstand gewesen, dann solltest du das noch einmal hinterfragen.
    Wenn du bis heute glaubst, Deutschland sei nach 1945 „nazifrei“ gewesen, dann solltest du dich besser informieren.
    Wenn du bis heute glaubst, es genüge, einmal im Jahr #NieWieder zu posten, dann liegst du falsch.
    An dem Ort, an dem du gerade stehst, hat früher das Leben von Jüdinnen:Juden und von Sinti und Roma stattgefunden. Wusstest du etwas darüber? Hast du dich je damit auseinandergesetzt?
    Heute wollen wir dich auf diese Leerstellen aufmerksam machen. Wir wollen diesen Ort zu einem Ort des Erinnerns werden lassen.
    Und trotz allem, was in diesem Land passiert ist, sind wir heute noch da und kämpfen für ein selbstbestimmtes und sicheres Leben. Wir wollen unsere Geschichten selber erzählen können.
    Siehst du uns?
    Hörst du uns zu?
    Kämpfst du mit?